Achim Stößer – Die Wunschmaschine

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»Die Wunschmaschine« von Achim Stößer 178.12 Kb

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Als es klingelte, wußte ich sofort, daß etwas Schreckliches geschehen würde. Natürlich klingt das im Nachhinein albern, aber es war tatsächlich so – weniger eine Vorahnung, vielmehr eine Folgerung aus den Umständen: Das Ferienhaus meines Onkels liegt einsam mitten im Wald, völlig abgeschnitten von der Zivilisation, so daß sich kaum jemand hierher verirrt, noch dazu spät nachts gegen zwei Uhr. Eine gewisse Besorgnis war also durchaus angebracht.

Ich hatte begonnen, einen Artikel über Tumorregression bei Dornhaien zu lesen und hörte mit halbem Ohr den Nachrichten im Fernsehen zu. Die US-Präsidentin hatte wieder einmal ein Attentat unverletzt überstanden. Es war nun schon das zwölfte seit ihrem Amtsantritt. Kein Wunder, eine querschnittgelähmte Afroamerikanerin wäre wohl nie die mächtigste Frau der Welt geworden, hätte sie als Vizepräsidentin nicht automatisch den Platz des Präsidenten eingenommen, als dieser gestorben war. Dieser Attentäter war, wie einige andere auch, religiös motiviert und zitierte mit Vorliebe Paulus. Aus der psychiatrischen Abteilung einer Haftanstalt ganz in der Nähe war ein Mörder entkommen, und die Bundespolizei bat um sachdienliche Hinweise. Über dem Atlantik war ein Passagier-Shuttle abgestürzt; Betroffenheit über die sich in letzter Zeit häufenden Unfälle dieser Art wurde zum Ausdruck gebracht. Der im Oktober – bei einer Kundgebung gegen die Rückführung der Flüchtlinge in die verseuchten Gebiete Montenegros nach Angleichung der zulässigen Grenzwerte – ums Leben gekommene Demonstrant war einen Sekundenbruchteil vor seinem versehentlichen leichten Kontakt mit Treibstöcken der Ordnungshüter an einem Aneurysma im Gehirn gestorben, so das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung. Die Hungerkatastrophe in Äthiopien hatte erschreckende Ausmaße angenommen.

Ich sah gerade von meiner Zeitschrift auf, weil ein Bericht über eine eigenartige Entdeckung eines astronomischen Satelliten gesendet wurde, dessen Anfang ich verpaßt hatte, da der vorangehende Beitrag über die Kajakpolomeisterschaften mich nicht allzu sehr interessierte, weshalb ich meine Aufmerksamkeit ganz der Lektüre zugewandt hatte, als es klingelte. Grieskamp, dachte ich sofort. Das war der Name des entflohenen Häftlings.

Von meinem Onkel halte nicht sehr viel, auch wenn er mich, seine einzige Nichte, gewöhnlich in dem ihm eigenen Büttenreden-Humor als seine Lieblingsnichte bezeichnet, denn er ist ein typischer Industrieller, fast schon die Karikatur eines macht- und damit geldgierigen, über Leichen und Schlimmeres gehenden Kapitalisten, der mir das Haus, das er ohnehin so gut wie nie benutzt, nur widerwillig überlassen hatte, bis ich eine neue Wohnung finden würde. Doch immerhin war deshalb eine Videoüberwachungsanlage installiert, so daß ich nicht an die Tür gehen mußte – glücklicherweise, denn ob ich den Schock überstanden hätte, weiß ich nicht.

Ich griff nach der Fernbedienung und fragte, während der Nachrichtensprecher verschwand, noch ehe ich den Besucher wahrnahm, wer da sei. Dann erst erkannte ich, daß das Wesen, das der Bildschirm zeigte, kein gewöhnlicher Mensch war. War es überhaupt ein Mensch? Eine Mutation? Ein Tier? Es war etwa so groß wie ein Berggorilla.

Es schaukelte ruckartig den Kopf hin und her; auf Stielen, die seitlich herausragten, saßen tennisballgroße Augen, Lider hatten sich im grellen Flutlicht zu vertikalen Schlitzen verengt. Fühler oder Antennen auf der Oberseite des Kopfs bewegten sich wie Tentakel vor und zurück. Das Gesicht war geprägt von einer lang vorstehenden Schnauze wie der eines Kaimans; die Kiefer säumte eine Reihe fingerlanger, nadelspitzer Zähne, die ineinander griffen wie die Finger betender Hände. Dunkelgrünes Blut sickerte durch einen Kopfverband. Der kugelförmige Unterleib lief in einen Bogen aus, der an das Fußgestell eines Freischwingersessels erinnerte. Die grünliche Haut sah rauh aus wie Schleifpapier.

„Wer – was sind Sie?“ fragte ich. Nicht gerade höflich, aber das Wesen wirkte doch zu merkwürdig.

Es zischte. Das Geräusch klang wie das Fauchen einer gereizten Gilaechse. Fast gleichzeitig ertönte eine klare Stimme: „Helfen Sie mir!“

Das folgende Gespräch wurde, wie übrigens auch die Annäherung des Wesens, sobald es in die unmittelbare Nachbarschaft des Grundstücks gelangte, von der Überwachungsanlage aufgezeichnet, so daß ich den Bericht darüber abkürzen kann. Nur soviel: Es überzeugte mich – trotz meiner Skepsis – daß es nicht von der Erde stammte, sein Schiff notgelandet sei und es verschiedene Materialien brauchte, um es zu reparieren. Auch angesichts der Havarie des Kernkraftwerks Müggendorf, die zahlreiche Mißbildungen zur Folge hatte und hat, war es zu fremdartig, um aus einer irdischen Spezies entstanden zu sein. Allenfalls mochte es sich um einen technischen Trick handeln, doch wenn jemand sich tatsächlich so viel Mühe gemacht hatte, dies vorzubereiten, versprach es in jedem Fall eine interessante Nacht zu werden, auch wenn die Geschichte erlogen war.

Ich hatte das Wesen nicht ins Haus gelassen, dazu sah es zu gefährlich aus, obwohl mir klar war, daß das Äußere täuschen mochte – Delphine und Flamingos lächeln nicht, der griesgrämige Gesichtsausdruck von Kamelen täuscht, und einige Schwebfliegen, Mistbienen beispielsweise, sind trotz ihrer gelb-schwarzen Streifen harmlos, wie also sollte ich das Aussehen eines Außerirdischen beurteilen? Also suchte ich, während es draußen wartete, die Dinge zusammen, die es benötigte – allesamt glücklicherweise vorhanden, Quecksilber aus einem altmodischen Thermometer etwa, Metallfolie von einer Schokoladentafel, Säure, die ich aus Essig und Kochsalz herstellte, Natriumbikarbonat aus Backpulver. Ich schlüpfte in meinen Thermoverall, wandte mich an der Tür noch einmal um und nahm den Camcorder vom Regal, in den ich eine leere Disk einlegte. Dann verließ ich das Haus, sah mich um. Nichts Verdächtiges war zu entdecken, nur das Wesen stand da und wippte auf seinem Bogen leicht auf und ab. Ein beklemmendes Gefühl, einem intelligenten Lebewesen gegenüberzustehen, das zumindest angeblich unter einer fremden Sonne geboren war. Das klingt pathetisch, ich weiß, aber so empfand ich es.

Im Licht des Camcorder-Scheinwerfers hüpfte das Wesen wie ein Känguruh vor mir her – ich hatte darauf bestanden, das Schiff zu sehen – und zwischen die Tannen. Sein Fußbogen drang tief und mit einem merkwürdigen Geräusch in den verharschten Schnee ein, doch es hatte keine Mühe, voranzukommen. Bald konnte ich nur noch seinen Spuren folgen, bis ich es wieder an einer Stelle einholte, an der es wippend wartete, um mir dann erneut voranzuhüpfen. Nach seiner Beschreibung hatte ich geschätzt, daß das Schiff etwa eine halbe Stunde entfernt sein mußte, doch schon nach knapp zwanzig Minuten erreichten wir es. Es war kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte, nicht viel größer als ein Haus. Unter ihm und ringsum lagen geknickte Bäume, der Boden war morastig von geschmolzenem Schnee. Der Rumpf hatte die Form eines Zwanzigflächners und stand, soviel ich im Scheinwerferlicht erkennen konnte, auf sieben unterschiedlich gekrümmten Beinen. Es erinnerte an einen Schlangenstern.

„Kann ich es von innen sehen?“ fragte ich.

„Das ist unmöglich, die Eingangsschleuse läßt keine fremden Organismen hinein – weder Bakterien noch Sie.“

„Schade. Das wären sicher interessante Aufnahmen geworden. Also dann …“ Ich hielt ihm den Leinenbeutel, in dem ich die Sachen verstaut hatte, hin. „Wie ist eigentlich Ihr Name?“

Es griff mit einer aus dem Oberkörper laufenden Schlinge nach dem Beutel. „Chchch“, zischte es. „Ich fürchte, das kann auch mein Übersetzer nicht in Ihre Sprache übertragen.“ Es stellte den Beutel ab und hielt plötzlich einen kleinen Gegenstand in der Hand. In der Schlinge, vielmehr. „Eine Gegengabe“, sagte es und bot ihn mir an.

„Oh, danke. Was ist das?“ Es sah aus wie ein Kugelschreiber. Ich nahm ihn und hoffte, daß es keiner war.

„Ein psychogener Koinzidenzverstärker.“

„Ein was? Ja, hm, … einen psychogenen – äh, Koinzidenzverstärker? – wollte ich schon immer haben. Wozu, sagten Sie, dient er?“

„Nun, Sie könnten ihn als Wunschmaschine bezeichnen. Er erhöht die Wahrscheinlichkeit gewisser zufälliger Ereignisse, nur im Rahmen des physikalisch Möglichen natürlich. Die Reichweite ist auf etwa eine sechstel Lichtsekunde begrenzt, Protozoen vom Titan hierherzutransportieren oder die Sterne zu Mustern anzuordnen ist etwas viel verlangt.“

„Auf dem Titan gibt es Protozoen?“ fragte ich verwirrt.

„Ja. Außer diesem Planeten der einzige Ort in diesem System, der -„

„Wo ist der Haken bei der Sache?“ unterbrach ich es. „Werde ich mit jedem Wunsch um zehn Jahre altern? Werden die Wünsche zu wörtlich genommen, so daß ich den dritten brauche, um den Schaden, den die beiden ersten angerichtet haben, wiedergutzumachen?“

„Natürlich nichts dergleichen; und die Anzahl der Koinzidierungen ist prinzipiell unbegrenzt, es ist lediglich je nach Schwierigkeitsgrad eine Aufladzeit von einigen Minuten, Stunden oder Tagen abzuwarten bis zur nächsten.“

„Aber was -„

Es ließ mich nicht aussprechen. „Ich muß jetzt gehen, sonst verpasse ich das Startfenster, das sich in wenigen Minuten schließt. Dann würde ich für einige Jahre in diesem Sonnensystem festsitzen.“ Es wandte sich um und hüpfte zur Schleuse.

„Warten Sie! Wie wird -“ Die Schleuse schloß sich hinter ihm, zwei oder drei Minuten lang tat sich nichts, dann hob sich das Raumschiff fast geräuschlos in die Luft und war bald darauf nicht mehr zu sehen.

Eine Weile blieb ich noch wie festgefroren in der Kälte stehen. Schließlich folgte ich unseren Spuren zurück zum Haus.

Der Stift stand mit dem flachen Ende auf der Glasplatte des Couchtischs, so daß er aussah wie eine kleine, schwarzlackierte alte Mondrakete.

„Also schön“, sagte ich. „Fangen wir mit etwas Einfachem an. Ich möchte einen Granatapfel.“ Nichts geschah. „Hast du gehört?“ Ich nahm den Stift in die Hand. „Einen Granatapfel, das kann doch nicht so schwierig sein. Nun?“ Der Stift fühlte sich kalt und glatt an, keine Veränderung zeigte sich. Es gab keine beweglichen Teile, nichts, worauf ich hätte drücken oder woran ich hätte drehen oder ziehen können. „Einen Granatapfel, bitte“, versuchte ich. Zwecklos.

„Allzu ausgereift kannst du nicht sein“, beklagte ich mich. „Bei guten Geräten ist die Bedienung selbsterklärend. Augenblick! Ich wünsche mir – hör gut zu! – ich wünsche mir eine Bedienungsanleitung für Koinzidenzverstärker.“ Nicht dumm, diese Idee, wenn ich das sagen darf, aber leider erfolglos. Der Stift blieb kalt, schwarz und stumm. Ich legte ihn wieder hin.

Wer konnte mir helfen? Schließlich würde ich in einem Elektrogeschäft kein großes Glück haben, wenn ich nach psychogenen Koinzidenzverstärkern fragte. Ebensogut konnte ich nach einem Spezialisten für Zeitmaschinen suchen. – Natürlich! Ein Physiker kannte sich mit so etwas am ehesten aus. Ich stand auf und wollte zu dem Sessel gehen, neben dem die Fernbedienung lag. Hinter mir hörte ich ein Geräusch: der Stift war vom Tisch gefallen. Ich legte ihn zurück, ging ein paar Schritte, wieder fiel er herunter. Ein zweites Mal hob ich ihn auf, doch diesmal beobachtete ich ihn, während ich mich entfernte. Er rutschte über die Tischplatte, genau auf mich zu, und fiel zu Boden. Ich lief im Zimmer herum, und der Stift folgte mir wie eine geprägtes Gänsekücken. Es war unmöglich, sich von ihm um mehr als eineinhalb Meter zu entfernen.

Resignierend nahm ich ihn auf, ging zur Fernbedienung, setzte mich, schaltete das Fernsehgerät ein und wählte die Telefonfunktion. Ich hoffte, daß Kaj und Christina aus dem Urlaub zurück waren – irgendwann diese Woche wollten sie wieder da sein, hatten sie gesagt. Fünf, sechs, sieben Mal ertönte das Rufzeichen. Dann meldete sich Kaj: „Elfström.“

„Hallo, Kaj, ich bin’s, Nele.“

„Nele? Was ist denn passiert?“ Er aktivierte den Bildschirm, doch er hatte das Licht im Schlafzimmer nicht eingeschaltet, so daß ich ihn nur schemenhaft erkennen konnte. „Weißt du, wie spät es ist?“ Er sprach leise, Tina schlief offenbar noch.

„Halb fünf“, antwortete ich, obwohl mir klar war, daß er die Frage so nicht gemeint hatte. „Es tut mir leid, ich wollte nur sehen, ob ihr schon zurück seid.“

„Und deshalb rufst du mitten in der Nacht hier an?“

Neben ihm regte sich etwas. „Was ist los?“ murmelte Tina. Sie erkannte mich auf dem Bildschirm. „Nele?“ fragte sie.

„Entschuldigt, daß ich euch geweckt habe, aber es ist wichtig. Ich kann das am Telefon nicht erklären. Ich komme in zwei Stunden vorbei.

„Soll das heißen, daß du uns in zwei Stunden nochmal aus dem Schlaf reißen willst?“ stöhnte Tina, verkroch sich in den Kissen und zog die Decke über den Kopf.

„Wo bist du eigentlich?“ fragte Kaj, der das Zimmer hinter mir nicht kannte.

„Im Haus meines Onkels, deshalb kann ich auch erst so spät bei euch in der Stadt sein. Ich mußte letzte Woche meine Wohnung innerhalb von 72 Stunden räumen – mein Mietvertrag war vor drei Jahren einer der ersten mit der neuen Eigenbedarfsklausel. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich fahre gleich los.“

„Na gut, aber ich hoffe, daß du mindestens ein Heilmittel gegen Krebs gefunden hast, oder was immer du mit deinen Rochen treibst.“

„Glaub mir, wegen einer solchen Lappalie würde ich dich sicher nicht um diese Zeit stören. Bis nachher.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach ich die Verbindung.

***

„Dann kam mir die Idee, dich anzurufen“, schloß ich meinen knappen Bericht.

Kaj schüttelte zweifelnd den Kopf. „Also du willst mir erzählen, dieses Ding“ – er gestikulierte mit dem Verstärker, den er in der Hand hielt – „habe dir ein kleines, grünes Männchen vom Mars geschenkt, das hier mal kurz auf einen Sprung vorbeigeschaut hat?“

Tina, die neben ihm saß, stieß ihn unsanft mit dem Ellbogen in die Rippen, wobei es ihr gelang, nichts von dem Kaffee, den sie sich gerade einschenkte, zu verschütten. „Ein kleines, grünes Frauchen vom Mars“, sagte sie. „Oder gibt es irgendeinen Grund, anzunehmen, daß es ein männliches Exemplar war, Nele? Du als Biologin solltest das doch beurteilen können.“

„Bisher habe ich mich hauptsächlich mit Knorpelfischen beschäftigt, weniger mit Außerirdischen“, sagte ich und deutete auf das große Aquarium, in dem etwa zwei Dutzend Silberkarauschen schwammen. Nicht, daß Zierkarpfen zu den Knorpelfischen zählten. „Wahrscheinlich könnte ich nicht einmal ein weibliches Känguruh von einem männlichen unterscheiden.“

„Haben die denn auch einen Beutel?“ bemerkte Kaj. „Sicher nicht, wozu auch?“

„Wozu haben Männer Brustwarzen?“ fragte Tina augenzwinkernd.

Ich süßte meinen Kaffee mit Ahornsirup nach. „Das liegt ganz einfach daran, daß die Anlagen für die Brustwarzen vor der dritten Schwangerschaftswoche entstehen, also noch bevor sich das Geschlecht des Embryos ausbildet“, sagte ich. „Entweder das, oder Gott hat Adam in dieser Gestalt erschaffen, so wie er ihm einen Nabel gegeben hat, ohne daß er jemals eine Nabelschnur gehabt hätte.“

„Sei dir da nicht so sicher“, grinste Tina. „Die Theologen waren sich über diesen Punkt ebenso uneinig, wie über die Anzahl von Engeln auf einer Nadelspitze. Deshalb haben die Maler früher Adam und Eva mit besonders großen Feigenblättern versehen, die auch die Stelle verdeckten, an die der Nabel gehört. Viele Gläubige sind heute noch der Ansicht, Männer hätten eine Rippe weniger als Frauen. Im Jahr – ich will nicht lügen, fünfzehn vierundsechzig, glaube ich – verurteilte die Inquisition den Arzt Andreas Vesalius zum Tod, weil er eine Leiche tranchiert und festgestellt hatte, daß dem Mann die Rippe, aus der Eva stammen sollte, gar nicht fehlte.“

„Tatsächlich?“ fragte ich. Tina gab oft solche seltsamen Fakten und Statistiken von sich, die eher gut erfunden als wahr klangen, aber gewöhnlich konnte sie sie belegen. Sie nickte bestätigend.

„Ich habe das Wesen jedenfalls als Neutrum empfunden“, fuhr ich fort. „Wer sagt denn, daß es immer zwei Geschlechter sein müssen? Hier auf der Erde gibt es schließlich auch Lebewesen, die eingeschlechtig sind, einige Echsenarten beispielsweise, und Organismen, niedere allerdings, mit dreizehn Geschlechtern, wenn ich mich recht erinnere: Schleimpilze. Sogar solche, die im Lauf ihres Lebens das Geschlecht ändern, wie etwa die gemeine Pantoffelschnecke, Crepidula fornicata, oder Anthias squamipinnis, ein Flachwasserfisch, der in tropischen Meeren lebt.“

„Fornicata?“ fragte Tina. „Ist das etwas Unanständiges?“

„Eigentlich nicht, fornix heißt der Bogen; Linné gab ihnen diesen Namen wegen der gewölbten Schale, ohne ihr Verhalten zu kennen. Das ist allerdings recht interessant, sie bilden Stapel: die jüngeren Tiere, die Männchen, oben; die älteren, die Weibchen, unten; dazwischen diejenigen, die sich in einem Umwandlungsstadium befinden.“

„Ich dachte schon, es hätte etwas zu tun mit -„

„Vom Wortstamm her schon, in den unterirdischen Teilen großer Gebäude im alten Rom, in denen gewölbtes Mauerwerk verwendet wurde, lebten – ach, was soll’s? Das ist doch nicht der Punkt.“

„Wollte ich auch gerade sagen“, nickte Kaj. „Das mag ja alles ganz amüsant sein, bringt uns der Lösung unseres Problems aber nicht näher.“

„Es kam übrigens nicht vom Mars, nicht einmal aus diesem Sonnensystem.“

„Woher dann?“

Ich schluckte. „Danach habe ich nicht gefragt.“

„So ein Pech. Alpha Centauri, die nächste Sonne, ist vier Lichtjahre entfernt, und sie hat wahrscheinlich keinen Planeten. Selbst wenn, und wenn er – oder sie oder es – von dort gekommen ist, so ist das doch verdammt weit weg. Wir bräuchten im Augenblick etwa achtzig Jahre hin und zurück. Auch mit Lichtgeschwindigkeit, wenn das möglich wäre, würde es acht Jahre dauern, von der Zeitdilatation abgesehen. Etwas lang für eine Kaffeefahrt, nicht?“

„Was ist mit Hyperraumsprüngen?“ fragte ich. „Oder Wurmlöchern?“

„Das funktioniert vielleicht in Science fiction-Filmen, aber nicht im wirklichen Leben. Die Reise von einem Ort zum anderen in kürzerer Zeit, als sie das Licht benötigt, ist rein rechnerisch unmöglich, sie würde die Kausalität verletzen – auch mit Hyperraumsprüngen, das ist wie die Geschichte von dem Athleten, der einhundert Meter in drei Sekunden läuft, weil er eine Abkürzung kennt. Wirklich, Nele, ich habe dich bisher eigentlich für ganz vernünftig gehalten.“ „Du kannst dir deine Kausalität sonstwohin – ich weiß jedenfalls, was ich gesehen habe, und ich habe keine andere Erklärung dafür.“

„Ja.“ Kaj schwieg einen Augenblick. „In jedem Fernsehkanal gibt es irgendeine Sendung, in der Bürgermeister sich beim Bierfaßanstich bekleckern, kleine Kinder gegen Laternenpfähle laufen und Fallschirmgleiter in Fichten hängen bleiben – jedesmal ist jemand dabei, der seinen Camcorder zufällig in die richtige Richtung hält. Nur wenn Ufos auftauchen, sieht es schlecht aus: volle Disk, leerer Akku, alles was wir haben sind ein paar unscharfe, verwackelte Fotos aus dem letzten Jahrhundert, die fatalerweise alle an Wolken, Wetterballons, Autofelgen oder Frisbeescheiben erinnern. Zu schade, daß du nicht daran gedacht hast, deinen Besucher zu filmen.“

„Habe ich das nicht erwähnt?“ Ich zog die Disk aus der Tasche und warf sie ihm zu.

Er fing sie, hob die Augenbrauen, stand auf und schob meine Aufzeichnung in den Recorder.

***

Das Schiff auf dem Fernsehschirm flog davon und verschwand.

„Nicht schlecht gemacht“, sagte Kaj. Er legte eine Leerdisk ins zweite Laufwerk des Recorders und kopierte meine Aufnahmen. „Das sieht alles sehr realistisch aus. Sogar das Mondlicht bricht sich im Schneewasser an den Bäumen … nur die Hopser von Flipper wirken etwas plump, findest du nicht? Oder wie hieß das Buschkänguruh – Skippy?“

„Hör zu, das ist keine Computeranimation. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, verstehst du?“ Er sah mich an, dann nickte er. „Ich verstehe. Tut mir leid. Aber es ist wirklich schwer zu glauben, nicht?“

„Dann paß auf.“ Ich nahm den Stift vom Tisch und gab ihn Kaj. „Halt ihn fest, so gut du kannst.“ Schnell ging ich von ihm weg; er wurde nach vorn gerissen, stolperte, der Stift flog aus seiner Hand und fiel zu Boden. „Der Verstärker scheint auf mich fixiert zu sein. Natürlich wirst du sagen, daß jeder Bühnenmagier diesen Trick imitieren kann, aber ich versichere dir, es ist keiner.“

Kaj rieb die schmerzende Innenfläche seiner Hand. „Ich glaube dir“, sagte er. „Ich glaube dir.“ Er nickte bedächtig. „Wir könnten einen Linguisten hinzuziehen, der die Sprache des Alien untersucht; das sollte nicht allzu schwer sein, das Zischen scheint der Synchronübersetzung recht gut zu entsprechen, fast wie der Stein von Rosette. Aber wir sollten damit nicht an die Öffentlichkeit gehen – noch nicht, nicht ehe wir mit diesem Ding hier zurechtkommen.“ Er hob den Stift auf. Wir setzten uns wieder.

„Nur schade, daß du ihn nicht darum gebeten hast, den Camcorder ins Schiff mitzunehmen, um dort Aufnahmen für dich zu machen, wenn die Schleuse für Organismen schon undurchlässig war“, sagte Kaj.

„Ich denke nicht, daß dafür Zeit gewesen wäre. Immerhin war da das Problem mit dem sich schließenden Startfenster.“

Kaj leerte seine Tasse. „Was ich nicht ganz verstehe“, sagte er. „Startfenster spielen normalerweise nur bei interplanetaren Flügen eine Rolle, sicher nicht bei interstellaren.“

„Gut“, sagte Tina. „Ich will versuchen, zusammenzufassen, was wir wissen. Der Stift hat keine erkennbare Steuerungsvorrichtung, die Eingabe könnte also verbal erfolgen, oder über Gedanken. Ja, ich weiß“, sie ließ Kaj nicht zu Wort kommen, „das klingt nach Psi und völlig unwissenschaftlich, aber wir sollten die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, immerhin deutet die Bezeichnung ‚psychogen‘, also von der Psyche erzeugt, so etwas an. Unter der ‚Verstärkung des zufälligen Zusammentreffens verschiedener Ereignisse‘ kann ich mir allerdings überhaupt nichts vorstellen.“

„Das könnte auf ein Übersetzungsproblem zurückzuführen sein“, sagte Kaj. Ein Schneeräumfahrzeug fuhr am Haus vorbei. Geschirr und Fenster klirrten, die ganze Wohnung vibrierte. „Schließlich gibt es ein solches Gerät nicht bei uns, also haben wir keine passende Bezeichnung dafür. Was ist das lateinische Wort für Glühbirne? Was heißt Elektronensynchrotron auf Kisuaheli?“

„Mein Kisuaheli ist ein wenig eingerostet, aber ich weiß was du meinst“, antwortete Tina. „Andererseits fühle ich mich unangenehm an das pseudowissenschaftliche Kauderwelsch von Wünschelrutengängern erinnert, mit dem sie wissenschaftliche Analphabeten beeindrucken können, das sich für euch aber so anhören muß, als ob jemand behauptet, ein Gewicht in Fahrenheit gemessen zu haben.“

Kaj nickte. „Ich stelle mir das so vor: Der Verstärker beeinflußt einige labile Zustände, scheinbar bedeutungslose Kleinigkeiten, die sich dann in ihrer Auswirkung fortpflanzen. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen, der Stein, der die Lawine ins Rollen bringt, oder, um das Standardbeispiel der Chaostheoretiker zu nennen, der Schmetterling, dessen Flügel ein paar Luftmoleküle bewegen und damit den Ausschlag geben können für die Entstehung oder Verhinderung eines Wirbelsturms. Wie diese Auswirkungen allerdings vorherbestimmt werden sollen, ist mir schleierhaft.“

„Die Funktionsweise ist im Augenblick wohl eher nebensächlich“, sagte ich. „Viel entscheidender ist die Bedienung, und die Frage, was das Gerät leisten kann. Die Gegenbeispiele und die Reichweite, eine sechstel Lichtsekunde – wieviel ist das eigentlich? Dreihunderttausend durch sechs, also fünfzigtausend Kilometer, das reicht spielend, um jeden Punkt der Erde zu beeinflussen – lassen auf eine unvorstellbare Mächtigkeit schließen. Mein Experiment ist dagegen fehlgeschlagen, einen Granatapfel habe ich nicht bekommen, obwohl das doch sicher kein Problem wäre. Wenn ich mich nur erinnern könnte, was die Leute im Märchen sich gewöhnlich wünschen.“

„Warum so bescheiden?“ fragte Tina. „Schließlich hieß es, die Wünsche seien nur auf das physikalisch Mögliche beschränkt, oder? Nicht, daß ich mir nicht eine Ausstellung wünschen würde …“ Sie deutete auf den Boden; drei Stockwerke tiefer verstaubten in ihrem Atelier Skulpturen aus Stahl, Spiegeln und Fernsehgeräten. „Euch ist offenbar überhaupt nicht klar, was für Konsequenzen der Verstärker hat. Physikalisch gesehen – entschuldige, Kaj, wenn ich mich in deinem Ressort breitmache – ist der Weltfrieden doch kein Problem. Traktoren statt Panzer, das wäre selbst ohne diese Wunschmaschine machbar. Das gleiche gilt für die Beseitigung von Hunger: du mußt nur das Vieh der Reichen, das das Brot der Armen frißt, sterilisieren; Korn wird nicht mehr an Rinder verfüttert, und zehnmal so viele Menschen, wie jetzt leben, können ernährt werden. Abgerüstete Kriegsschiffe transportieren Getreide statt Giftgas. Auch andere als die durch Viehzucht verursachte Umweltzerstörung kannst du verhindern und ungeschehen machen. Du kannst jede beliebige Krankheit heilen, sogar die Entstehung verhindern. Das sind nur die naheliegendsten Punkte.“

„Zuerst müssen wir das Ding aber dazu bringen, überhaupt etwas zu tun“, sagte Kaj. „Wir brauchen überschaubare, einfache Experimente, sowohl was die Wünsche, als auch was die Eingabeschnittstelle angeht.“

Tina nippte nachdenklich an ihrem Kaffee, der inzwischen sicher kalt war. „Was ich aber absolut nicht verstehe, ist, warum diese Wunschmaschine nicht in der Lage gewesen sein soll, das Raumschiff zu reparieren.“

Wir starrten sie beide an. „Du hast recht“, sagte Kaj gedehnt. „Das habe ich überhaupt nicht bedacht.“

„Sehen wir uns die Aufzeichnung noch einmal an“, schlug ich vor.

***

Kaj knabberte an einem Weihnachtsplätzchen, das er in der linken Hand hielt, während er mit der rechten in einem großformatigen Buch blätterte. „Hier“, rief er. „Titan. Stickstoffschnee und -seen, Kohlenwasserstoffe … komplexe organische Moleküle, aber für die Entstehung von Leben viel zu kalt. Wenn das stimmt, dann hat Skippy, was die Protozoen angeht, sich geirrt.“

„Oder gelogen“, sagte Tina. Sie biß ebenfalls in ein Mandelhörnchen. „Das ist das Problem mit euch Wissenschaftlern, ihr seid einfach zu naiv. Wenn ein indischer Fakir euch sagt, er könne eine Stricknadel durch seine Zunge stechen, und das auch demonstriert, dann versucht ihr, die Erklärung im Zusammenspiel von Muskelfasern, Neuronen und Hormonen oder was auch immer zu finden, statt auf die Idee zu kommen, daß der Fakir eine Tricknadel verwendet hat, die sich um die Zunge herum biegt. Mir ist das Vieh jedenfalls unheimlich mit seinem Drachengesicht, den Reißzähnen und dem Kobrazischen.“

Kaj leckte Krümel von seinen Fingern. „Sich geirrt, gelogen, jedenfalls die Unwahrheit gesagt.“

Ich saugte an einem Stückchen Haselnuß, das zwischen meinen Molaren eingeklemmt war. „Die Frage ist: warum?“ Der Nußsplitter löste sich, und ich griff nach einem Kokoskringel. „Und natürlich vor allem: was ist die Wahrheit?“ Ich nahm den angeblichen Verstärker und drehte ihn zwischen den Fingern. „Außerdem: was tut dieses Ding?“

Im Treppenhaus hallten Schritte. Es war kurz nach sieben, die Stadt war erwacht, die Menschen machten sich auf, weitere sechs Stunden ihres Lebens mit langweiliger Routine zu verschwenden.

Der Stift in meiner Hand versetzte mir einen leichten elektrischen Schlag, ich ließ ihn fallen. Blaue Blitze schlugen daraus hervor, züngelten wie lange biegsame Finger in eine Richtung, leckten an der Wand, schienen in sie einzudringen. Draußen ein Schrei.

Wir liefen zur Tür. Auf den Stufen liegend wand sich ein Mädchen. Ich schätzte sie auf dreizehn oder vierzehn Jahre. Die Blitze, die aus der Wand kamen, liefen um ihren Kopf, einige krochen über ihren Körper bis zu den Finger- und Zehenspitzen.

Mit einem Schlag, wie ausgeschaltet, waren die Blitze verschwunden. Tina beugte sich über das Mädchen, hielt ihren Kopf. „Sandra? Bist du in Ordnung?“

Das Mädchen blinzelte, stand auf, schwankte. „Nichts passiert“, sagte sie und rieb sich den Ellbogen. „Ich bin wohl hingefallen.“

Tina stützte sie. „Ruft einen Arzt!“ preßte sie hervor.

„Nicht nötig“, wehrte Sandra ab. „Ich bin okay.“ Sie machte sich los, stand auf, lief die Treppe hinab. „Ich komme zu spät zur Schule“, hörten wir noch undeutlich. Der Unterricht muß heutzutage wesentlich interessanter sein als früher.

Tina beugte sich über das Geländer. „Warte!“ rief sie, doch schon schlug unten die Haustür zu.

In der Wohnung schepperte etwas, wie zerbrechendes Glas – und etwas wieherte. Gleichzeitig drängten wir uns durch die Tür, liefen durch den Flur ins Wohnzimmer.

Ein Pferd stand da, machte unbeholfen einen Schritt vorwärts, wieder einen zurück und zur Seite. Es hob den Kopf und wieherte. Ein umgestoßenes Regal hing schief über einem Sessel und dem Tisch, Bücher lagen verstreut am Boden, das Aquarium war zerbrochen, die Goldfische zappelten auf dem durchnäßten Teppich.

Das Pferd war schwarz bis auf eine Blesse, gesattelt und gezäumt. Tina ging auf das Tier zu, griff nach den Zügeln und sprach auf es ein. Kaj kam mit einer wassergefüllten Schüssel aus dem Bad, ich half ihm, die Fische einzusammeln. Zwei Himmelsgucker und ein Kometenschweif waren unter den Hufen zerquetscht worden.

Langsam beruhigte sich das Pferd, stand still, schnaubte. Doch seine Augen machten noch immer einen verwirrten und ängstlichen Eindruck. Tina streichelte es und redete weiter auf es ein. Ein Rascheln in den Büchern, die den Boden übersäten. Der Stift kroch darunter hervor und auf mich zu.

Kaj hob halbherzig das umgestürzte Regal an, ließ es dann wieder fallen. Er schüttelte den Kopf. „Wie, zum Teufel, kommt eine Stute hier herein?“ Er versetzte einem der nassen Bücher auf dem Boden einen Tritt.

„Sandra“, sagte Tina und deutete auf den Verstärker. „Was wünscht sich eine Zwölfjährige wohl am meisten?“

Kajs Kopf fuhr herum, mit offenem Mund starrte er das Pferd an. Ich tat wohl das gleiche. Tina begann vorsichtig, es am Zügel hinauszuführen. Es war nicht einfach, das verängstigte Tier dazu zu bewegen, die Treppe hinunterzusteigen, aber schließlich gelang es uns, fast unbemerkt, nur eine Nachbarin öffnete kurz ihre Wohnungstür, schlug sie aber sofort wieder zu.

Vor dem Hauseingang riß das Pferd sich los, lief um die Ecke. Dort war eine Hauptstraße, aber glücklicherweise standen die Autos um diese Zeit im Stau, folglich konnte nicht allzuviel passieren. Lediglich das Hupen verstärkte sich ein wenig, so daß wir annahmen, daß die Fahrer das Pferd bemerkt hatten.

Kaj holte einen Schneeschieber aus dem Keller und beseitigte die Hufabdrücke, die zu uns führten. Was wir jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnten, waren lästige Fragen der Polizei. Wir versuchten, die Bescherung, die das Pferd angerichtet hatte, wieder in Ordnung zu bringen. Wenigstens hatten die Lichterscheinungen die Wand zum Treppenhaus nicht beschädigt. Wohin ich auch ging, der Stift folgte mir. Ich war gerade in der Küche, um frischen Kaffee aufzubrühen, als er erneut Funken sprühte.

Die leuchtenden Blitze tasteten nach dem Herd, dessen Induktionsfläche begann, bläulich zu glühen, und durchdrangen die Wand zur Nachbarwohnung. Ich rief nach Kaj und Tina. Kaum hatten sie die Küche betreten, hörten die Entladungen auf, der Stift lag ruhig und unschuldig da als sei nichts geschehen. Die Wand war unbeschädigt, wies keinerlei Spuren auf. Nur die Herdplatte war heiß.

„Wir müssen nach Lopiano sehen“, sagte Tina. Wir gingen los, doch nach zwei Schritten hielt Tina abrupt an. „Nicht alle zusammen, das fällt auf.“ Sie nahm eine Tasse vom Wandhaken. „Ich frage ihn, ob er uns etwas Salz borgen kann.“

Kaj und ich räumten weiter auf. Ein paar Minuten später kam Tina zurück. „Er hatte kein Salz“, sagte sie und stellte die leere Tasse ab. „Aber davon abgesehen, scheint es ihm gut zu gehen.“ Wir alle spürten ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Lopiano hatte sich sicherlich kein Pferd gewünscht.

„Was ist das?“ Kaj hob eine Stück Papier vom Boden auf. „Ein Lottoschein? Ausgestellt auf deinen Namen, Nele! Und mit deiner alten Adresse.“

„So ein Unsinn. Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Ich bin zwar nur Biologin, aber daß die Wahrscheinlichkeit für sechs Richtige aus 49 eins zu dreizehn Millionen beträgt, weiß ich auch. Als ob ich Lotto spielen würde.“

„Natürlich nicht.“ Tina nahm ihm den Lottoschein aus der Hand, ging zum Fernsehgerät und ließ sich mit der automatischen Auskunft der Lottogesellschaft verbinden. Sie verglich die Zahlen auf dem Bildschirm mit denen auf dem Schein. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte sie. „Ich hoffe, daß dabei für uns eine neue Wohnzimmereinrichtung abfällt. Und der Teppich ist auch ruiniert.“

„Soll das heißen …“ Kaj warf einen Blick auf die Quoten, die auf dem Schirm zu sehen waren. „Zwei Komma vier Mega-Ecu?“

Tina nickte. „Fast zweieinhalb Millionen, nicht schlecht. Zuerst Sandra, dann Fabio Lopiano.“ Sie zeigte auf den Verstärker, der am Boden lag. „Damit dürfte wohl klar sein, daß das Ding nicht deine Wünsche erfüllt, sondern -„

Der Verstärker begann zu glühen, Blitze zuckten, in einer Pfütze aus Licht hüpfte er auf und ab wie Tofuwürfel in einer heißen Pfanne. Die Lichtfinger bohrten sich in den Fußboden. Der Stift schwebte in einer Höhe von zwei Zentimetern, dann verschwand das Licht, und er fiel wie eine Marionette, deren Fäden zerschnitten worden sind.

„Ich bin schon unterwegs“, seufzte Tina und griff nach der Salztasse.

„Sie lallt zwar und kann kaum aufrecht stehen“, berichtete sie, als sie zurückkam, „aber das ist normal. Und an ihrer Leberzirrhose und dem Gehirnschaden ist der Verstärker sicher auch nicht schuld. So kann das nicht weitergehen. Wer weiß, was sie sich gewünscht hat. Wir müssen etwas tun.“

„Schon möglich“, sagte ich, „aber ich brauche jetzt erst einmal eine Dusche. Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.“

Ich ging ins Bad, zog den Duschvorhang beiseite, rutschte aus und landete rückwärts in der Badewanne, die, wie ich jetzt erst bemerkte, mit einer stinkenden Flüssigkeit gefüllt war. Ein Teil davon wurde von meinem Körper verdrängt und schwappte klatschend über den Wannenrand.

Tina und Kaj standen in der Tür. „Was ist das?“ fragte Kaj.

„Wasser, Hopfen, Malz, Hefe, Zucker, Zuckercouleur, künstliche Aromastoffe und Geschmacksverstärker, schätze ich.“ Ich versuchte aufzustehen, rutschte ein zweites Mal aus und fiel zurück in die Wanne. Die Brühe schäumte.

„Jetzt brauchst du ganz sicher eine Dusche“, sagte Tina. „Wenn du fertig bist, komm bitte ins Atelier. Und vergiß nicht, den Stift mitzubringen.“ Sarkasmus lag in ihrer Stimme. „Kaj, legst du ihr ein paar meiner Sachen zum Anziehen zurecht? Wir müssen endlich etwas unternehmen. Wenn der Verstärker Runkel erwischt, steht womöglich plötzlich der Führer vor der Tür.“

„Welcher Führer?“ fragte ich geistesabwesend und stieg triefend aus der Wanne.

„Adolf Hitler, Politiker, Staatsmann, deutscher Reichskanzler. Mann des Jahres 1936 im Time Magazine. Dieser Führer. Ich bin im Atelier.“ Sie machte kehrt.

„Was hast du vor?“ rief Kaj ihr nach, doch sie antwortete nicht.

Ich zupfte an meinem biergetränkten Pullover, zog ihn aus und versuchte, ihn über der Wanne auszuwringen. „Wer ist dieser Runkel?“ Der Pullover tropfte immer noch. Ich gab auf und ließ ich ihn fallen.

Kaj deutete zur Decke. „Hartmut Runkel. Wohnt über uns. Mitglied der Jungen Christnationalen.“

***

Es war noch immer dunkel. Ich fuhr im Schrittempo über die sich windende Straße, die nicht viel mehr war als ein asphaltierter Waldweg, von Dorf zu Dorf. Nur das Summen des Motors störte die winterliche Stille. Frischgefallener Schnee knirschte unter den Reifen.

Der Verstärker lag neben mir auf dem Beifahrersitz. Tina hatte in ihrem Atelier versucht, ihn in einen Stahlkasten einzuschweißen. Vergeblich, er war mir weiter gefolgt, hatte im Kasten eine Tür zerstört. Selbst eine Wand konnte ihn nicht aufhalten, er fuhr durch die zwei Zentimeter starke Stahlplatte und die Mauer wie ein Messer durch eine überreife Banane. Beängstigend. Also hatten wir beschlossen, ihn wegzubringen, zurück ins Haus meines Onkels, aus der Nähe irgendwelcher Menschen mit merkwürdigen Wünschen. Außerdem wollte ich die Landungsstelle des Raumschiffs bei Tag filmen.

Kaj würde im Institut verschiedene Meßinstrumente besorgen, um den Stift zu untersuchen. In ein paar Stunden sollten er und Tina nachkommen.

Es begann wieder zu schneien, viele Spuren der Landung würden wohl nicht mehr zu sehen sein, von den geknickten Bäumen abgesehen. Im Licht der Scheinwerfer wirbelten mir Schneeflocken entgegen. Obwohl ich langsam fuhr, rasten sie an mir vorbei wie die Sterne an Hollywoods Raumschiffpiloten. Und auf dieser Straße gab es fast ebensowenig Gegenverkehr wie im All.

Ich war schon über zwei Stunden durch den Wald gefahren, ohne, außer im einen oder anderen Kuhdorf, einem Wagen zu begegnen. Dann sah ich Lichter, blendete die Scheinwerfer ab. Der andere Fahrer bemerkte mich kurz darauf, denn er tat das gleiche. Dicht fuhren wir aneinander vorbei, und im selben Augenblick sprühte der Verstärker wieder Funken. Blitze durchdrangen ungehindert meine Heckscheibe und die des schwarzen BMW. Im Rückspiegel sah ich, wie der Wagen an den Straßenrand fuhr und die Warnblinkanlage sich einschaltete – offenbar die Totmannautomatik, denn der Fahrer konnte dazu kaum in der Lage gewesen sein, es sei denn, es saßen mehrere Personen darin, und eine andere war betroffen.

Ich hielt an und stieg aus. Ein scharfer Wind warf mich fast um. Die Blitze hörten auf. Halb lief ich, halb schob der Wind mich. Ich öffnete die Fahrertür des BMW. Der Mann sah mich verwirrt an. Er war allein. Hätte er einen weniger teuren Wagen, ohne Totmannsicherung, gefahren, wäre er wohl nicht so glimpflich davongekommen.

„Geht es Ihnen gut?“ fragte ich. Die Anzeige des Autotelefons ließ erkennen, daß es bereits einen Notruf abgesandt hatte.

„Ja“, sagte er, „nur ein kleiner Schwächeanfall.“ Er zog die Tür zu, griff nach dem Telefonhörer, gab Gas. Die Räder drehten kurz durch, dann fuhr der Wagen davon.

„Nichts zu danken“, sagte ich. Ich kämpfte mich gegen den Wind zu meinem eigenen Auto zurück und fuhr weiter. Meine Füße waren eiskalt, ich spürte die Zehen kaum noch. Also drehte ich die Heizung etwas höher.

Was hatte der Mann sich gewünscht?

Ein paar Sekunden später tauchte im Scheinwerferlicht eine Gestalt auf. Im Schneegestöber war sie nur undeutlich zu sehen. Ich hielt an. Die Gestalt kam näher, ich öffnete die Beifahrertür.

„Kannst du mich mitnehmen?“ Es war ein Kind.

„Natürlich! Steig ein, du holst dir sonst noch den Tod! Was machst du denn hier draußen, bei Eis und Schnee?“ Ich legte den Verstärker vom Sitz auf die Ablagefläche des Armaturenbretts.

Wortlos stieg das Kind ein und zog die Tür hinter sich zu. Die Schneeflocken auf seinem Anorak verwandelten sich in glänzende Wasserperlen. Es schlug die Kapuze zurück. Ein kleines Mädchen, sicher nicht älter als zehn oder elf Jahre.

Ich fuhr weiter. Die Scheibenwischer hatten Mühe, die Windschutzscheibe sauber zu halten. In dicken Krusten klebte der Schnee am Glas, dort, wo die Wischer ihn nicht erreichen konnten. Von Zeit zu Zeit rutschte ein Brocken auf einer Schicht Schmelzwasser ab.

„Ich heiße Nele.“

Das Mädchen schwieg. Ihr Gesicht war im schwachen Licht der Armaturen kaum zu erkennen.

„Willst du mir deinen Namen nicht verraten?“

Sie blieb stumm. Eine Ausreißerin? Was sonst würde sie hier tun, am frühen Morgen, ganz allein im Wald, mitten im Winter? Das Schneetreiben wurde immer stärker, Schnee fiel nicht nur von oben, der Wind wirbelte ihn auch vom Boden auf.

Sie holte einen Gegenstand aus der Tasche, zielte damit in meine Richtung. Eine Schußwaffe. „Fahr in den nächsten Waldweg und halt an“, befahl sie mit leidenschaftsloser Stimme.

Innerlich fluchte ich. In der Stadt sind Carjacker keine Seltenheit – Kinderbanden machen sich einen Spaß daraus, an Ampeln Fahrer zum Aussteigen zu zwingen und mit den gestohlenen Wagen über die Autobahn zu rasen; noch schlimmer ist es, wenn sie Hubschrauber stehlen, da sie natürlich den Autopiloten deaktivieren – aber hier? Noch dazu ein einzelnes Mädchen?

„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, sagte ich so ruhig wie möglich. „Willst du dir nicht lieber einen Lamborghini besorgen als dieses alte Wrack? Ich schlage vor, ich lasse dich im nächsten Dorf aussteigen, und wir vergessen die Sache, einverstanden?“

„Das Auto interessiert mich nicht.“

„Was dann? He, Bargeld habe ich nicht.“

„Da vorn rechts abbiegen.“

Ich gehorchte und hielt vor einer Schranke an. Niemand war zu sehen. „Du kannst mich doch hier nicht … ich werde erfrieren! Das kannst du nicht machen.“

Sie schaltete die Innenbeleuchtung ein, öffnete den Reißverschluß ihres Anoraks, schlüpfte aus einem, dann aus dem anderen Ärmel, wobei sie die Pistole von der rechten in die linke Hand wechselte und ständig auf mich gerichtet hielt. Sie ließ mich nicht aus den Augen. „Ausziehen!“ sagte sie.

„Was?“

Sie zerrte an ihrem Pullover, er zerriß wie Papier. Ihre Haut war braungebrannt, als käme sie geradewegs aus einem Urlaub von den Malediven.

Wenigstens war jetzt klar, was der Soziopath im BMW sich gewünscht hatte.

„Los!“ Sie gestikulierte mit der Waffe. „Worauf wartest du?“

„Du willst mich doch nicht erschießen, oder?“ Vorsichtig hob ich die Hand und strich ihr über den Kopf. Der Lauf senkte sich kaum merklich.

Ich startete den Motor, fuhr zurück auf die Straße und dann weiter.

„Was machst du?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Anhalten!“ Gänsehaut bildete sich auf ihrem bloßen Oberkörper. Widerstand war nicht eingeplant gewesen. Ihre Finger umklammerten den Griff der Pistole, sie berührte nicht einmal den Abzug.

Ich schaltete die Innenbeleuchtung aus. „Möchtest du etwas essen? Ein heißes Bad vielleicht, du mußt ja ganz ausgefroren sein. Es ist nicht mehr weit bis zu mir nach Hause.“ Tatsächlich lagen zwischen hier und der Abzweigung zum Haus meines Onkels nur noch zwei Ortschaften, die Lichter der nächsten waren bereits als Schimmer zwischen den wirbelnden Schneeflocken zu sehen. Es war kaum anzunehmen, daß sie wirklich schießen würde. Wenn ich sie ausfragen konnte … woher war sie gekommen? Wie? War sie ein echtes menschliches Wesen mit Erinnerungen, einer Vergangenheit? Oder war sie erst vor ein paar Minuten entstanden, erschaffen von der Wunschmaschine?

Aus den Augenwinkeln sah ich undeutlich, wie sie die Fetzen ihres Pullovers ordnete und den Anorak wieder anzog. Die Pistole hatte sie neben den Verstärker gelegt.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich. „Es kommt alles wieder in Ordnung.“ Zumindest hoffte ich das.

Sie riß die Tür auf und ließ sich hinausfallen. Zum Glück fuhren wir nicht allzu schnell. Ich bremste. Ein paar Meter entfernt rappelte sich die kleine Gestalt im Schein meiner Rücklichter auf und lief davon. Ich sprang aus dem Wagen. „Bleib stehen!“ rief ich. Sie war verschwunden. „Komm zurück! Du mußt keine Angst haben. Bitte!“ Schneeflocken brannten auf meinem Gesicht. Ich stieg wieder ein und wartete.

Nach zehn Minuten schlug ich wütend auf den Steuerknüppel, dann fuhr ich weiter.

Tina betrachtete die Pistole, die neben ihrem Teller lag. Sie nahm einen zweiten Maiskolben aus der Pfanne. „Es war wirklich eine gute Idee, hierherzufahren. Von uns hat wenigstens keiner solche perversen Phantasien.“

„Hoffentlich sind wir weit genug entfernt von den anderen“, sagte ich zwischen zwei Bissen. „Wenn das stimmt, was Skippy über die Reichweite des Verstärkers gesagt hat …“

„Wenn. Ich bezweifle, daß irgendetwas davon wirklich wahr ist. Skippy schien es ziemlich eilig zu haben, nicht?“

„Das Startfenster -„

„Pipapo, Startfenster. Das heimtückische Biest wollte nur deinen Fragen ausweichen.“

„Aber was sollte das ganze bezwecken?“

„Vielleicht …“ Ein Maiskorn hüpfte aus Kajs Mund auf seinen Teller. Er schluckte. „Vielleicht finden wir etwas heraus, wenn wir den Stift untersuchen.“ Er hatte aus dem Institut einen ganzen Lieferwagen voller Meßgeräte mitgebracht, deren Namen ich zum Teil nicht einmal kannte. Über den Wandschirm liefen erneut meine Aufzeichnungen. Er zeigte gerade eine Großaufnahme des Gesichts des Außerirdischen.

„Grünes Blut“, bemerkte Tina. „In einem Roman würde ich das für ein Klischee halten. Muß Blut denn nicht rot sein, so wie Blätter grundsätzlich grün sind, weil sie Chlorophyll brauchen?“

„Nicht unbedingt. Denke an Krebse, manche Spinnentiere, Muscheln, einige Schnecken, Tintenfische, die blaues Blut haben. Das Rot unseres Bluts stammt vom Hämoglobin, das dem Sauerstoff- und Kohlendioxidtransport dient, aber es gibt durchaus andere Moleküle, die die gleiche Funktion erfüllen, und die zum Beispiel Kupfer statt, wie bei uns, Eisen enthalten, so daß das Blut in Verbindung mit Sauerstoff blau erscheint.“ Die Aufzeichnung war zu Ende, der Bildschirm schaltete um auf ein kitschiges, prasselndes Kaminfeuer. „Einige Ringelwürmer haben grünes oder violettes Blut. Es gibt sogar grünblütige Glattechsen. Sie haben zwar auch Hämoglobin, wie wir, aber ihr Blut enthält außerdem das Gallpigment Biliverdin, das ihr gesamtes Gewebe, einschließlich der Eier, grün färbt, weil es die rote Farbe überdeckt, habe ich kürzlich irgendwo gelesen. Augenblick, sind Skinks nicht lebendgebärend? Was weiß ich … In unserem Blut ist, soviel ich weiß, übrigens auch Biliverdin enthalten, ebenso wie Bilirubin, die aus Hämoglobin durch Oxidation bzw. Reduktion entstehen. Deshalb sehen Blutergüsse auch grünlich aus, das Biliverdin wird nicht so schnell vom Umgebungsgewebe abgebaut. Glaube ich jedenfalls. Das grüne Blut ist also durchaus -„

Es klingelte. Wir sahen uns an.

„Ich gehe schon“, sagte Tina, legte den leergenagten Maiskolben hin und stand auf.

Kaj deutete auf den Wandschirm. „Wir sollten lieber erst nachsehen, wer es ist.“

Aber Tina war schon an der Haustür und öffnete sie. Sie kam zurück und deutete mit dem Daumen hinter sich. Sie war bleich, zitterte. „Für dich“, sagte sie zu mir.

Zwei außerirdische Wesen betraten das Zimmer. „Verzeihen Sie die Störung“, sagte eines von ihnen zischend. Die Haut in seinem Gesicht schien abzublättern, darunter kamen dunkelgrüne Stellen zum Vorschein. „Mein Name ist Chchchchch, und dies ist Chch. Leider müssen wir dieses Gerät konfiszieren.“ Es deutete auf den Koinzidenzverstärker, der auf dem Tisch lag.

Das andere hielt etwas in der Handschleife, das, auf den Verstärker ausgerichtet, in rascher Folge Piepstöne von sich gab. Es nahm ihn auf, steckte ihn in etwas, das wie ein Bleistiftspitzer aussah, und drehte ihn kurz um. Das Piepsen verstummte, und es verstaute alles in einer großen Tasche.

„Was soll das heißen?“ fragte ich. Nicht, daß es mir unangenehm gewesen wäre, dieses Danaergeschenk endlich loszuwerden.

„Eigentlich müßten wir Sie wegen illegalen Drogenbesitzes verhaften“, fuhr das erste Wesen fort. „Aber unter diesen Umständen …“ Es machte eine allumfassende Geste mit einer seiner Schlingen.

„Drogen? Was meinen Sie damit? Gibt der Verstärker irgendwelche Chemikalien ab?“

„Verstärker? Ist es das, was Chchch Ihnen gesagt hat? Wir sind ihm schon lange auf der Spur, und wissen, daß das nur eine seiner vielen Lügengeschichten ist. Nein, ein Mißverständnis, es handelt sich nicht um biochemische Drogen, sondern um eine elektromagnetische Beeinflussung des Gehirns.“

„Es wirkt halluzinogen?“

„Ganz recht. Es projiziert Halluzinationen, erzeugt im Bewußtsein der betroffenen Personen eine Scheinwelt, die nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat, und nur auf Wunscherfüllung ausgerichtet ist.“

„Eine technologische Variante der Religion also“, warf Tina ein. „Das heißt, wenn wir in unsere Wohnung zurückkommen, die von einem eingebildetet Wunschpferd verwüstet wurde, werden wir sie völlig intakt vorfinden?“

Das Wesen schüttelte in einer menschlich anmutenden Geste den Kopf. „Wohl kaum. Es ist eher anzunehmen, daß Sie diese Verwüstungen, von denen Sie sprechen, selbst angerichtet haben, ohne sich dessen bewußt zu werden.

„Ganz wie ich es mir dachte“, nickte Tina. „Ein Religionsautomat. Deshalb konnte Skippy damit sein Raumschiff nicht reparieren, falls es überhaupt beschädigt war. Es ist schwierig, ein Auto gesundzubeten – Maschinen glauben einfach nicht daran.“

„Künstlich induzierte Paranoia“, präzisierte ich. „Aber wozu?“

Tina hob abfällig die Schultern. „Weil es Macht über die Abhängigen verleiht, ganz einfach.“ An das Wesen gewandt fragte sie: „Aber wieso wurden nicht unsere Wünsche erfüllt, sondern die anderer?“

„Ist das so?“ Es fauchte etwas, das nicht übersetzt wurde, und das andere antwortete ebenso. „Tatsächlich. Wie es scheint, ist das Gerät defekt, falsch justiert.“ Wieder zischte es, und beide wandten sich zur Tür. „Jedenfalls müssen wir Sie jetzt verlassen, das letzte Startfenster für die nächsten Jahre schließt sich in kurzer Zeit.“

Tina sah ihn mißtrauisch an. „So etwas hat der andere auch gesagt.“

Das Wesen erwiderte ihren Blick. „Nun, das war eine Lüge“, sagte es, und die Außerirdischen hüpften davon. Wir folgten ihnen zur Haustür, doch sie machten im Freien so große Sprünge, daß sie bald darauf außer Sicht waren. Nur die hufeisenförmigen Spuren im Schnee waren noch kurz zu sehen. Der Schneefall war jedoch so stark, daß sie fast augenblicklich bedeckt wurden.

Soviel also zu unserer Begegnung der Dritten Art. Nur ein – nicht ganz unwesentliches – Detail bleibt noch nachzutragen. Jetzt, wo wir nicht mehr unter dem Einfluß der künstlichen Halluzination stehen, sehen die Videoaufzeichnungen ganz anders aus. Tina hatte völlig recht, als sie sagte, daß wir oft in der falschen Richtung nach Erklärungen suchen.

Ihr Videoarchiv enthält, das nannte sie als ein Beispiel von vielen, einen jahrzehntealten Bericht über die „weinende Madonna von Peru“. Sie spielte die Disk für uns ab – die miserable Bildqualität ließ darauf schließen, daß es eine Kopie von einer Analogaufzeichnung war, doch der Inhalt sprach eine deutliche Sprache. Das Land, schon damals in einem desolaten Zustand, schöpfte wieder Hoffnung: fünf Madonnenstatuen weinten, eine sogar Blut. Präsident Fujimori bat persönlich um Wunder, und prompt stieg seine Popularität. Da wir von Koinzidenzen sprachen: eine der Figuren stand im ehemaligen Wahlkampfzentrum des Präsidenten, eine andere gehörte der Schwester des Regierungsfotographen. Die Kirche sah die Wunder mit wohlwollender Zurückhaltung, ein Bischof sagte, das Volk brauchte Motivationsspritzen zur Steigerung der Religiosität. Ob dieses Wortspiel wirklich unbeabsichtigt war? Damals wurden Drogen noch häufig mit Spritzen injiziert. „Lagrimas de la virgen son auténticas“, schrieb das Massenblatt El National. „¿Ahora qué dirán los incrédulos …?“ Diese Ungläubigen verwiesen vergeblich darauf, daß ein Pfarrer mit chemischen Mitteln eine Inka-Figur hatte weinen lassen. Die Gläubigen brachte auch eine Schrift des Geheimdiensts nicht ins Wanken, die für schlechte Zeiten Wunder empfahl: die wundergläubigen Peruaner, so hieß es da, seien dadurch von der Misere des Landes abzulenken.

Fujimoris Vorgänger Garcia hatte es angeblich zwei Jahre zuvor abgelehnt, Maria auf einem Berg über Lima erscheinen zu lassen – unnötig, zu sagen, daß er nicht wiedergewählt wurde.

Ulrich Wickert, der Nachrichtenmoderator, der den Bericht kommentierte, bemerkte dazu, es sei gut, daß die Stasi nicht auf diese Idee gekommen sei, sonst hätte er die DDR vielleicht gerettet, wenn in Ostdeutschen Amtsstuben plötzlich alle Honeckerbilder in Tränen ausgebrochen wären.

Heute jedenfalls, wo Opus Dei fast ganz Lateinamerika beherrscht, weinen viele Madonnen – manche Blut, einige davon menschliches, und ein paar davon haben sogar die gleiche Blutgruppe. Seit langem sind Wunder dort etwas ganz Natürliches. Aber waren sie das nicht schon immer?

Der zutiefst abergläubische Sir Arthur Conan Doyle irrte, als er seinen scheinbar rationalen Sherlock Holmes sagen ließ, daß wenn alle möglichen Lösungen ausgeschlossen seien, das Unmögliche die Lösung sein müsse. Abduktionen, die Holmes statt deduktiver Schlußfolgerungen verwendete, können durchaus trügerisch sein. Wer saure Gurken ißt, ist nicht zwangsläufig schwanger. Elementar, verehrter Watson.

Die erste Disk, die von der Videoüberwachungsanlage aufgezeichnet wurde, zeigt nicht das außerirdische Wesen, das ich in dieser Nacht und wir alle später in den Aufnahmen zu sehen geglaubt hatten. In Wirklichkeit stand Grieskamp vor der Tür, der angebliche Mörder. Das Blut, das durch seinen Kopfverband sickerte, war rot. Warum er mir den Projektor gab? Ich weiß es nicht. Vielleicht hielt er das für das bestmögliche Versteck, getarnt durch seine Geschichte vom Außerirdischen. Immerhin war er auf der Flucht.

Auf der zweiten Disk ist nicht etwa ein Raumschiff zu sehen, sondern einen gewöhnlichen Helikopter.

Und es existiert eine dritte Aufzeichnung, die von den verschiedenen automatischen Kameras in der Umgebung stammt.

Die beiden Männer, die für uns wie Außerirdische ausgesehen hatten, traten aus dem Haus. In unsere Gehirne ließen sich Halluzinationen projizieren, die Videoaufzeichnung blieb davon unberührt. Sie gingen langsam, fast gemächlich, und doch hatten wir ihre Fortbewegung als rasches Hüpfen wahrgenommen. Sie verließen das Grundstück, aber das Zoom folgte ihnen, und die Richtmikrophone zeichneten ihren Wortwechsel auf.

„Werden sie uns glauben?“ fragte der, der angeblich Chch hieß. Er war etwa zweiundzwanzig.

„Natürlich.“ Der andere, der sich Chchchchch genannt hatte, war wesentlich älter, grauhaarig, vielleicht Ende sechzig. „Dazu sind die Halluzinationen schließlich da. Wir haben Dr. Grieskamp immerhin monatelang verfolgt, ehe wir gestern die erste Spur von ihm fanden, obwohl er nur einen Prototypen gestohlen hatte. Selbst ihm ist es gelungen, sie zu täuschen, was sollte also mit unserer ausgereiften Version schiefgehen? Wir sind, was die Halluzinationen angeht, dicht genug an der Wahrheit geblieben, um glaubwürdig zu bleiben, und weit genug davon entfernt, um uns nicht zu gefährden. In jedem Fall müssen wir sie überwachen. Jetzt sollten wir Grieskamp weiter verhören, wer weiß, was er noch angerichtet hat.“ Sie waren bei einem Hubschrauber angekommen. „Sie können unseren Projektor jetzt ausschalten, Roßner.“

„Ja, selbstverständlich.“ Roßner holte einen schwarzen Gegenstand in Form und Größe einer Zigarette aus der Tasche und schraubte an einem Ende.

Sie stiegen in den Hubschrauber. Die Rotoren begannen sich zu drehen, er hob ab und flog davon. Die wirbelnden Rotorblätter verwandelten den treibenden Schnee in einen Miniaturtornado, doch das Zoom zeigte deutlich auf dem Rumpf eine Erkennungsnummer der Bundespolizei.

Es wird ihnen nichts nützen, uns abzuhören. Morgen gehen an alle seriösen Zeitungen, Magazine, Fernsehsender und Computernetze Kopien dieses Berichts und meiner Videoaufzeichnungen.

Sie werden versuchen, es zu vertuschen, dann dementieren, und zuletzt wie üblich einen Sündenbock finden; Roßner tut mir fast leid. Aber wenigstens werden sie eine Weile daran zu beißen haben.

Ende

© Achim Stößer – http://www.achim-stoesser.de

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Der Autor:

Achim Stößer wurde im Dezember 1963 in Durmersheim bei Karlsruhe geboren. Er studierte Informatik an der Universität Karlsruhe, wo er anschließend einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Er beschäftigte sich mit Computerkunst und -animation und hatte einen Lehrauftrag an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Derzeit befaßt er sich als Gründer der Tierrechtsinitiative Maqi hauptsächlich mit Veganismus und Antispeziesismus. Dies sind neben Atheismus, Antirassismus, Antifaschismus auch Hauptthemen in seinen Erzählungen. Er veröffentlicht seit 1988 in Anthologien und Zeitschriften, zuletzt »Der Test« in Wolfgang Jeschke (Hrsg.), »Winterfliegen«, Heyne Verlag, 1999 und »Magnifying Glass« (dt. »Brennglas«) in »Prairy Schooner: New German Literature«, Vol. 73, Num. 3, Fall 1999. Sein Erzählband »Virulente Wirklichkeiten« erschien 1997 im dot-Verlag.
 

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